Was wir vorher über Missbrauch nicht wussten
Jeder Fall von Kindesmissbrauch betrifft das gesamte soziale Gefüge, in dem er stattfindet. Da Kinder auf
den Schutz durch ihr soziales Umfeld angewiesen sind, impliziert jeder Vorfall ein irgendwie geartetes
Versagen des Umfelds. Um davon möglicherweise ausgelöste Schuldgefühle, Vorwürfe oder Selbstvorwürfe
abzuwehren, wollen viele Menschen den Missbrauch verdrängen, ignorieren, relativieren oder verharmlosen.
Oft ist ihnen dabei nicht bewusst, dass sie damit den Täter schützen und den Opfern die erforderliche
Hilfe und Solidarität vorenthalten. Ein derartiges Nicht-Wahrhabenwollen ermöglicht weiteren
Missbrauch.
Zutreffend spricht man von sexualisierter Gewalt statt von Missbrauch, weil man keinen Menschen wie ein
Objekt gebrauchen darf.
Viele Täter ziehen ihre Befriedigung in erster Linie aus der Lust an der Macht- bzw. Gewaltausübung. Ihre
Straftaten entspringen im Kern mehr ihrer Machtgier als einer Erkrankung. Der Begriff „Pädophilie“ kann
hier den falschen Eindruck erwecken, als könne der Täter gar nicht anders und sei in gewisser Weise
nicht schuldfähig. Täter haben Zugang zu Therapien und können sich also für oder gegen jeden einzelnen
Tatvollzug entscheiden.
Sexualisierte Gewalt entspringt einer Haltung und wird zur Gewohnheit, die wegen der Lustbefriedigung
Suchtcharakter entwickelt. Daher ist die Annahme, es handle sich um Einzeltaten völlig irrig und verengt
den Blick darauf, dass Täter ihren Lebensentwurf darauf abstellen, ihr Bedürfnis nach Ausübung
sexualisierter Gewalt unbehelligt ausüben zu können. Zu diesem Zweck wird das gesamte soziale Gefüge, in
dem der Missbrauch stattfindet, daraufhin ausgerichtet, einen geschützten Raum zu finden bzw. zu
errichten, innerhalb dessen, der Täter sich ungestraft an Kindern und Schutzbefohlenen vergehen
kann.
Wo findet ein Täter einen solchen geschützten Raum bzw. wie kann er ihn errichten?
Wichtige Merkmale eines derartigen, den Täter schützenden Raums sind: ein hierarchisches System, das dem
Täter einen hohen Status, Ansehen, Bewunderung und eine Vertrauensposition garantiert, Gleichgesinnte,
Verbündete, erpressbare Vorgesetzte, zu Loyalität verpflichtete Gefolgsleute, Fans, die sich (oft
unbewusst) wie ein Schutzwall um den Täter scharen sowie ein auf den Täter zentriertes soziales Gefüge,
in dem der Täter möglichst alle Beziehungen der anderen Menschen kontrolliert oder zumindest kennt und
beeinflusst.
Täter versuchen erst, sich einen derartigen Schutzraum aufzubauen, bevor sie dann auf die Suche nach
Opfern gehen, bei denen sie abchecken, ob sie in irgendeiner Weise schutzlos dastehen, z.B. weil ihre
Familie sie nicht schützen kann, arglos oder wehrlos ist, und möglichst keine Freunde haben, denen sie
sich anvertrauen könnten.
Die Position eines Täters ist umso unangreifbarer, je gesicherter seine Stellung innerhalb einer klaren
Hierarchie ist, je mehr Fans er hat, je mehr er über jeden Beteiligten seines sozialen Gefüges weiß und
je stärker er die Sozialkontakte der anderen kontrollieren und manipulieren kann. Wittert er bei
jemanden das Risiko durchschaut zu werden, wird er ihn möglichst schnell und rigoros aus dem Umfeld
entfernen, z.B. durch Diffamierung, Verleumdung, Rufmord, Mobbing und öffentliche Bloßstellung. Die Fans
müssen bei Laune gehalten werden und gleichzeitig muss ihnen demonstriert werden, was passiert, sollte
man sich jemals gegen den Täter wenden. Zu diesem Zweck werden auch sie gezielten Peinlichkeiten
ausgesetzt, die dann vermeintlich als Spaß aufgelöst werden. Solche Machtdemonstrationen werden in
regelmäßigen Abständen eingesetzt, um die Unangreifbarkeit des Täters immer wieder ins Bewusstsein zu
rufen. Eine große Zahl von Gefolgsleuten, am besten angesehene und einflussreiche Persönlichkeiten,
sichert das Umfeld vor kleinen Infragestellungen ab, so dass Zweifel oder Beschwerden schon im Vorfeld
abgeschmettert werden, bevor sie zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden könnten.
Hat ein Täter sich solch ein Umfeld geschaffen, kann er ziemlich sicher sein, dass seine Taten entweder
gar nicht wahrgenommen und zumindest nicht verfolgt und geahndet werden. Denn wer sollte es wagen ein
solches Sozialgefüge anzugreifen, in dem alle wie Schachfiguren ihre Funktion erfüllen und dessen
Infragestellung gewiss mit sozialer Ächtung bestraft würde?
Sexualisierte Gewalt bedeutet nicht unbedingt, dass das Opfer mit physischer Gewalt zu sexuellen
Handlungen gezwungen wird. Oft wird sehr geschickt psychischer Druck ausgeübt, der dem Opfer suggeriert,
es selbst wolle die sexuelle Handlung. Häufig werden Opfer mit Geld und Geschenken angelockt und durch
Alkohol oder Drogen gefügig gemacht. Auch gruppendynamische Prozesse und raffiniert gesetzte
Provokationen werden von Tätern eingesetzt, um Kinder oder Jugendlichen an sich zu binden, abhängig zu
machen und zu sexuellen Handlungen zu verleiten, die nicht ihren eigenen Bedürfnissen entspringen.
Gleichzeitig wird ihr Selbstwertgefühl zerstört, Minderwertigkeitsgefühle und Schuldgefühle werden
gezielt geschürt, um das Schweigen des Betroffenen sicherzustellen. Wenn er das Gefühl hat, dass ihm
sowieso keiner glauben wird und er schließlich selbst schuld sei, kann der Täter sich seiner
Verschwiegenheit sicher sein. Wenn es ihm nun noch gelingt, den Betroffenen von sich in sozialer und
wirtschaftlicher hinsicht abhängig zu machen, kann er seine Übergriffe ganz nach seinem Belieben
ausüben.
Als uns diese Zusammenhänge klar wurden, haben wir begriffen, dass wir, und im Grunde die gesamte
Gesellschaft, gefordert sind. Betroffene brauchen unsere Solidarität! An jeder Stelle der beschriebenen
Zusammenhänge ist unsere Sensibilität gefordert.
Umfassende Literatur unter: https://www.bildungsserver.de/Forschung-und-wissenschaftliche-Literatur-zu-sexuellem-Kindesmissbrauch-9313-de.html
Antworten auf die Fragen von Pfarrer Hans
Speckbacher und der Gruppe Sauerteig
Welchen Schaden richtet der sexuelle Missbrauch eines Priesters an einem 12-jährigen Jungen an?
Kann ein solches Ereignis einen Menschen derart aus der Lebensbahn werfen, dass er in Drogen- und Alkoholsucht abrutscht? Ich recherchiere seit 2018 zum Fall des Priesters Peter H., der von den siebziger Jahren bis 2010 über 20 Jungen missbraucht hat.
Einer dieser Fälle wird am 10. Januar vor dem Landgericht Traunstein verhandelt. Andreas Perr wurde Mitte der 1990er-Jahre von Priester Peter H. im Pfarrhaus in Garching an der Alz missbraucht. Der Fall hat große Bedeutung für die katholische Kirche – denn das Erzbistum setzte den Priester nach rechtskräftiger Verurteilung wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs erneut in die Gemeindearbeit ein. Unsere Recherchen zeigten, dass selbst der verstorbene deutsche Papst Benedikt XVI., damals noch als Kardinal Joseph Ratzinger, dabei geholfen hat.
Nur durch dieses Wiedereinsetzen kam es dazu, dass Priester H. unter anderem den jetzigen Kläger Andreas Perr missbrauchen konnte. Dieser verklagt das Erzbistum München und Freising auf 300.000 Euro Schmerzensgeldund Papst Benedikt XVI. posthum auf 50.000 Euro.
Andreas Perr kann die Klage führen, weil die Initiative Sauerteig aus der Gemeinde, wo er als Junge missbraucht wurde, hinter ihm steht und über ein Crowdfunding Geld für das Verfahren sammelt. „Wir hoffen, dass das Erzbistum seine finanzielle Übermacht nicht zur Zermürbung des Klägers einsetzt", sagt Sauerteig-Mitgründerin Rosi Mittermeier.
correctiv.org
Der Prozess Perr gegen das Erzbistum München und Freising ist in mehrfacher Hinsicht als historisch zu bezeichnen:
Erstens, weil geschichtlich erstmalig das Traunsteiner Landgericht im Juni 2023 Joseph Ratzingers Verantwortung für den konkreten Missbrauchsfall am jungen (Betroffenen)Perr durch den inzwischen weltbekannten (und mittlerweile Ex-) Pfarrer Peter H. feststellte.
Zweitens, weil es am 10.01.2024 wegweisend um die Höhe der finanziellen Wiedergutmachung eines Schadens geht, der ein Kind völlig aus der Bahn geworfen hat. Dass das Münchner Erzbistum hierfür die Gefahr der Retraumatisierung des Opfers billigend in Kauf nimmt, obwohl ihm die Akten und Belege z.T. seit Jahrzehnten vorliegen, erschüttert uns in unserem Glauben an die Kirche, die die Jesu Botschaft von der Nächstenliebe in die Welt tragen soll. Wieviel Kraft, Mut und Durchhaltevermögen muss ein Missbrauchsopfer gegen solche Hürden aufbringen, um Gerechtigkeit zu finden! Wegweisend kann das Verfahren für andere Missbrauchsbetroffene sein, die nach Mitteln (Wege oder Möglichkeiten) suchen, sich Gerechtigkeit zu verschaffen. Dass die UKA (Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen) dies nicht leistet, zeigt der jüngste Augsburger Fall, in dem Bischof Meier die von der UKA festgesetzten 150 000 Euro nicht zahlen will. Ein neuer Weg ist außerdem, dass der Prozess mit Hilfe eines Crowdfundings finanziert wird, das den Kläger in die Lage versetzt, von der Kirche die Wiedergutmachung des Schadens einzuklagen, der ihm mit Wissen und Duldung der Kirchenleitung zugefügt wurde.
Historisch kann drittens sein, was Kard. Marx tut: Ist ihm die Selbsterhaltung einer Kirche, die sich von pädokriminellen Kreisen hat unterwandern lassen, wichtiger als ein christlicher Akt der Wiedergutmachung? Wird er die finanzielle Überlegenheit des Erzbistums zur Zermürbung des Betroffenen nutzen oder sein am 17.7.2021 in Garching a.d. Alz gegebenes Versprechen, sich nun an die Seite der Betroffenen zu stellen, glaubwürdig und vorbehaltlos in die Tat umsetzen?
Eine vierte weitreichende Folge wird haben, ob die Kirche bereit ist, für die Schadensersatzzahlungen Kirchenvermögen einzusetzen, denn für Kirchensteuerzahler wäre es nicht hinnehmbar, die Wiedergutmachung aus der Kirchensteuer zu begleichen. Wenn Katholiken für die Verbrechen von pädokriminellen Klerikern bezahlen sollten, wäre der Exodus aus der Kirche nicht mehr aufzuhalten. Oder wird die Kirche gar versuchen, den Missbrauchsopfern indirekt die Schuld an ihrem Niedergang zuzuschieben?
Als fünfte historische Dimension steht in den Sternen, ob und wann der Vatikan zu seiner Verantwortung in diesem Missbrauchsgeschehen steht. Schließlich war Joseph Ratzinger in seinen verschiedenen kirchlichen Leitungsfunktionen im Vatikan für den amtskirchlichen Umgang mit dem Missbrauchstäter H. verantwortlich.
Als unbefriedigend empfinden wir außerdem die Tatsache, dass der Missbrauchstäter selbst nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil Verjährungsfristen den Serientäter schützen. Beginnt hier die sechste historische Dimension des Falls Peter H.?
Rosi Mittermeier, Initiative Sauerteig